Rezensionen:
Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. (DM 49,80) Luchterhand Verlag.

Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (DM 68,-) C.H.Beck Verlag.

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Anmoderationsvorschlag:


Ist es jemals möglich historische Ereignisse zu verstehen, nachzuempfinden und vielleicht sogar Lehren aus ihr zu ziehen? Der wohlgemeinte Imperativ, aus der Geschichte zu lernen, damit sie sich nicht wiederholt, hat sich mit den jüngsten nationalistischen Konflikten in Europa und anderswo ad absudum geführt. Fast scheint es, hat sich nach dem Trauma von Holocaust und Vertreibung die Vergangenheit selbst überholt und dabei Erinnerungen ausgelöscht, das Gedächtnis geradezu einer Zensur unterworfen.

BAND-A. Ist es jemals möglich historische Ereignisse zu verstehen, zu deuten ...
E ... so subjektiv wie die Wahrheit, die für die Zukunft bewahrt werden soll.
Länge: ca. 15'00



Gedächtnis und Geschichtsschreibung sind seit alters her durch eine Symbiose der besonderen Art miteinander verbunden. Ohne Gedächtnis und Erinnerung scheint Geschichte nicht möglich, andererseits sind persönliche wie kollektive Erinnerungen von einer Subjektivität geprägt, die gerade Historiker vermeiden wollen und sollten.
Der Historiker Dan Diner, Leiter des Instituts für deutsche Geschichte in Tel Aviv und seit kurzem Professor in Leipzig, versucht in seinem neuesten Buch keine aktuellen Forschungsergebnisse, Fakten oder Daten zu veröffentlichen, sondern er wendet sich einem Teil der Geschichtsschreibung zu, die in letzter Zeit stark vernachlässigt wurde, zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Leopold von Ranke aber gang und gäbe war - historische Ereignisse zu bündeln und Deutungsachsen zwischen ihnen herzustellen. Diner geht davon aus, daß die Historie unablässig dahinfließt, jede politische Handlung eng verzahnt ist mit den vorangegangenen.
Der Titel des Buches Das Jahrhundert verstehen" zielt genau auf die Architektur dieser Publikation. Das kommende 21. Jahrhundert mit seinen prognostizierten Konflikten - man denke an Huntingtons Kampf der Kulturen" - kann nur mit dem 20. und 19., wenn nicht sogar noch mit dem 18. Jhd. verstanden werden.

O-Ton 1: Mir kam es im Wesentlichen darauf an, eher paradoxe Entwicklungen aufzuzeigen... gleichsam Frankreich erleichtert wird. (1'24) Nr. 8

Daß Jahrhunderte zwar nominell, historisch gesehen aber fast nie 100 Jahre umfassen ist seit der Französischen Revolution 1789, seit dem ersten Weltkrieg 1914 und den Umbrüchen im ehemaligen Ostblock 1989 einleuchtend. Diese Eckdaten leiteten jeweils eine neue Ära ein, in der sich das Verhältnis der Staaten und Nationen untereinander einer Revision unterziehen mußte.
Dan Diner verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der Entgrenzung. Im Falle der Französischen Revolution die Entgrenzung des Kriegsrecht - aus Kabinettskriegen der adligen Oberschicht á la Napoleon oder Friedrich dem Großen entstand die unkontrollierbare Bewaffnung der Massen, die levée en masse, die während der Restauration und durch die Verträge des Wiener Kongress 1815 rigoros rückgängig gemacht werden sollte. Die Wiederherstellung des Legitimitätsprinzips" war das Ziel. Letztlich endete die länderübergreifende Entgrenzung aber in ihrem schrecklichsten Ausbruch, im Great War, dem Großen Weltkrieg - einem Weltbürgerkrieg", der nach Diner ein kolossales Mißverständnis war.
Die Folge dieses epochalen Einschnittes waren neben dem umstrittenen Versailler Vertrag die Entgrenzung der Gewalt mittels Technik. Ihr Pendant findet sich bereits im amerikanischen Bürgerkrieg 1861-1865. Erstmals in der Kriegsgeschichte waren dort Maschinengewehre verwendet worden, also entpersonalisierte Massentötungsmittel, die den traditionellen Krieg en forme ablösten durch eine Mißgeburt aus nationaler Revolution und totalem Bürgerkrieg.
Kriegsraison ging vor Kriegsmanier.", so ein Resümee Diners.

Doch die französische Revolution brachte nicht nur eine Entgrenzung des Kriegsrechtes mit sich, sondern legte mit ihrer Parole von liberté, egalité und fraternité paradoxerweise die Grundlagen für die bis heute andauernden Nationalitätenkonflikte. Die Gründung des griechischen Nationalstaates 1830 ist dafür ein wichtiges Datum, der sogenannte Völkerfrühling" 1848/49 ein weiteres. Bereits vor 150 Jahren pervertierten sich die Ideale von 1789 in ihr Gegenteil - in Westeuropa wurde aus der ursprünglich geforderten Gleichheit vor dem Gesetz die Antinomie der Freiheit zwischen den Klassen - dem Adel, dem Bürgertum und der Arbeiterklasse.
Im Osten verwandelten sich diese Klassenauseinandersetzungen in ethnisch motivierte Konflikte - dort standen nicht das Bürgertum gegen den Adel oder die Arbeiter gegen das Bürgertum, sondern dort definierten sich Nationen, grenzten sich Polen, Rumänen, Tschechen oder Ungarn aufgrund ihrer Ethnie voneinander ab, Völker also, die in multiethnische Imperien eingebunden waren, wie sie die Habsburger Monarchie, das Osmanische Reich und das Russische Zarenreich waren.

O-Ton 2: Die Trennungslinie ist heute die...sondern sie begründen sich ethnisch. (0'54) Nr. 3

Dieser Begriff ethnisch" beinhaltet nicht nur eine bestimmte rassische Herkunft. Die herausragendsten Identifikationsmodelle berufen sich auf die kulturellen Werte, auf die Religion, die Märchen, Mythen und kollektiv erinnerten, tradierten Geschichten". Somit hatte sich ein Bürgerkrieg wie der 1. Weltkrieg sehr schnell in einen Wertekrieg verwandeln können, in dem nationale Prinzipien verteidigt wurden.
Doch Dan Diner spannt in seinem Buch den Bogen noch weiter: Die Parolen von 1789 tauchen für ihn auch während des Kalten Krieges wieder auf: der westliche Block postuliert die Maxime der Freiheit, der östliche, kommunistische Block die der Gleichheit . Der Kalte Krieg, der de facto vor allem wirtschaftlicher Natur war, barg eine ganz wichtige Aufgabe in sich - die der Neutralisierung von Konflikten. Die USA hatten mit der späten Kriegserklärung 1917 an Deutschland die frühere Rolle des englischen Königreiches in Europa übernommen, nicht ganz freiwillig übrigens. Indem die beiden Supermächte nach dem 2. Weltkrieg auf politischen wie militärischen Ausgleich bedacht sein mußten, ergab sich eine historische Sonderepoche", gewissermaßen eine geschichtliche Aus-Zeit. Dan Diner bezeichnet sie als verlorene Zeit, die jetzt um so heftiger lang zurückliegende, wenn nicht sogar mythische Ereignisse aktualisiert. Fast hat man das Gefühl, ein neues Imperium müßte her um das Auseinanderbrechen völkerrechtlicher Normen zu stoppen:

O-Ton 3: Dieses Imperium ist im Prinzip...Vergangenheit soll sich in der Kultur niederschlagen. (1'20) Nr. 5

Im Zentrum der Ausführungen des Autors stehen unvermuteterweise nicht die westeuropäischen Länder, wie England, Frankreich oder Deutschland. Dan Diner beginnt seinen virtuellen Spaziergang durch die Geschichte an der europäischen Peripherie - in Odessa an der Schwarzmeerküste. Spätestens mit Karl Schlögel und seinem Zitat Die Mitte liegt ostwärts" hat sich ein Historiker zur heutigen Bedeutung der osteuropäischen Staaten, dem ehemaligen cordon sanitaire geäußert. Gleichzeitig hat er diesen Nationen damit einen politischen Stellenwert eingeräumt, den Dan Diner nur bestätigen kann. Die universalhistorischen Deutungen des Historikers Dan Diner bleiben subjektive Erklärungsmuster. Sie sind eine Möglichkeit, mit der Geschichte umzugehen, Rat bei ihr zu holen, um irritierende Ereignisse einordnen zu können. Eine Stütze des Gedächtnisses also ?
Die Anglistin Aleida Assmann, Professorin in Freiburg, beschäftigt sich seit Anfang der 90er Jahre mit genau diesem Thema.
Was ist verantwortlich für selektive Wahrnehmung, für die unterschiedlichen Eindrücke von Augenzeugen ein und desselben Ereignisses? Welchen Einfluß hat das Gedächtnis auf die Geschichtsschreibung? Läßt man die literarischen Exkurse der Autorin beiseite und beschäftigt sich mit den allgemeinen Erläuterungen zu Funktionen, Medien und Speichern von Erinnerung ist dieses Buch eine wertvolle Ergänzung zu Dan Diners universalhistorischer Deutung. Erst wenn man sich vor Augen führen läßt, daß Erinnerung und Memoria zwei Seiten einer Medaille sind, versteht man auch den Unterschied zwischen aktivem und passivem Erinnern - dem Phänomen der Nachkriegszeit.
Beispiele für die Rettung persönlicher Erinnerungen zum Aufbau einer kollektiven Erinnerung sind derzeit mannigfaltig - Steven Spielbergs Shoa Foundation" ist die Fortsetzung einer Aktion der Gedenkstätte Yad Vashem aus den 50er Jahren, in Deutschland z.B. führt die Hamburger Werkstatt der Erinnerung" Gespräche mit Zeitzeugen.
Interviews mit Überlebenden des Holocaust sollen bewirken, daß das Trauma als Erinnerung entpersonalisiert wird, d.h. nicht dem menschlichem Schutzmechanismus, dem Vergessen von unvorstellbar grausamen Erlebnissen anheimfällt. In den Gesprächen wird deutlich, daß die Erinnerung, so deutlich sie auch sein kann, aus der individuellen Rückschau die Wirklichkeit immer nur rekonstruiert. Daraus entsteht dann die Gedächtniskultur von Gemeinschaften.
Der Zusammenhang von Erinnerung und Identität ist nicht nur von Dichtern und Philosophen erforscht worden, sondern auch von Soziologen und Historikern. Die Autorin Assmann führt die derzeit gängigen Thesen an - immer in Anlehnung an die Theoretiker des kollektiven Gedächtnisses wie Marcel Proust, Krysztof Pomian oder Harald Weinrich. Nach ihrer Theorie wird Geschichte und Gedächtnis jeweils durch ihre gegenseitige Abgrenzung bestimmt: das eine ist immer das, was das andere nicht ist.

!!! Zitat 1:
Gedächtnis, Geschichte: keineswegs sind dies Synonyme, sondern wie uns heute bewußt wird, in jeder Hinsicht Gegensätze...Das Gedächtnis ist ein stets aktuelles Phänomen, eine in ewiger Gegenwart erlebte Bindung, die Geschichte hingegen eine Repräsentation der Vergangenheit...Das Gedächtnis rückt die Erinnerung ins Sakrale, die Geschichte vertreibt sie daraus." ca. 0'24


Die Autorin referiert hier ein Zitat von Pierre Nora, stimmt seinen Erkenntnissen aber nicht endgültig zu. Bei Assmann werden aus diesen beiden Polen zwei Arten von Gedächtnis: das Funktionsgedächtnis ist das landläufige selektive menschliche Gedächtnis, das Speichergedächtnis sind die historischen Forschungen, also die Geschichte.
Der Historiker Dan Diner ist neben seiner Professur in Tel Aviv und Leipzig auch Mitherausgeber der Zeitschrift History and Memory, ein Organ der Erinnerungsforschung:

O-Ton 4: Was auffällig ist, das ist ja nach dem Kalten Krieg auffällig geworden...der Zeitgenossen eingekerbt haben. (0'37) Nr. 10

Die russischen Kultursemiotiker der Tartu-Schule Jurij Lotman und Boris Uspenskij wiesen bereits Anfang der 80er Jahre darauf hin, daß Kultur das nicht vererbbare Gedächtnis des Kollektivs" sei. Kultur muß ständig neu definiert, vermittelt und angeeignet werden. Riten und traditionelle Praktiken sind dazu ebenso notwendig wie Sprache, Bilder, Bücher, seit neuestem eben auch Tonbänder und Videos. Aleida Assmann führt ihren Leser im großen Bogen durch die Weltkulturen - vom Totenkult im alten Ägypten, der antiken Memoria-Tradition des Simonides, dem Auswendiglernen, über die Fama, der Ruhmes- und Legendenbildung bis hin zur Denkmalmanie der Gründerzeit.
Diese verschiedenen Funktionen der Erinnerung werden durch unterschiedliche Medien transportiert. Schrift versucht mündliche Überlieferungen zu konservieren, Körper kommunizieren in tradionellen Gesten, Orte sind ein Sinnbild für das Gedächtnis an Götter, an Heilige, an Menschen oder Ereignisse.

!!! Zitat 2:
Die zu Gedenkstätten und Museen umgestalteten Erinnerungsorte unterliegen einem tiefgreifendem Paradox: Die Konservierung dieser Orte im Interesse der Authentizität bedeutet unweigerlich einen Verlust an Authentizität. Indem der Ort bewahrt wird, wird er bereits verdeckt und ersetzt. Das geht gar nicht anders. Nur ein kleiner Teil des Bestandes kann als repräsentativ erhalten werden, und auch hier muß Baufälliges in der Substanz erneuert und ausgetauscht werden...Wer zuviel Gewicht legt auf die Gedächtniskraft eines Ortes, läuft Gefahr, den umgestalteten Gedenkort, den Ort der Besucher mit dem historischen Ort zu verwechseln." (S.333) ca. 0'40


Friedrich Nietzsche gehört mit zu den wichtigsten Gedächtnisphilosophen, die den auch von Assmann beschriebenen Lehrsatz vertreten, daß sich Erinnern und Vergessen gegenseitig bedingen - nur indem eine Ereignis hervorgehoben wird aus vielen, die vergessen werden, erinnert man sich daran. Dazwischen steht der negative Speicher" - man schaue nur in den Papierkorb, dort harren die als Abfall eingestuften Gegenstände ihrer zukünftigen, induktiven Deutung.
Interessant ist, daß Nietzsche bereits damals seine Furcht vor einer Flut von historischen Überlieferungen bekannte, denen er das Vermischen von Wesentlichem mit Beliebigen anlastete. Wie prophetisch für unsere heutige Faktenlage!
Das Buch von Aleida Assman zeigt also, daß selektive Wahrnehmung unvermeidlich ist, um sich erinnern zu können und sie bedingt deshalb auch die unterschiedlichen Eindrücke von Augenzeugen ein und desselben Ereignisses.
Der Einfluß des Gedächtnis auf die Geschichtsschreibung kann demnach nur einseitig sein. Während das Gedächtnis versucht eine Brücke über Vergangenheit, Gegenwart, und Zukunft zu schlagen, trennt Geschichte radikal Vergangenheit von Gegenwart und Zukunft ab. Was dann letztlich aus den erinnerten Werten und Identitätsprofilen in die Geschichte eingeht, ist so subjektiv wie die Wahrheit, die für die Zukunft bewahrt werden soll.