WDR 5 "Alte und neue Heimat" Sendedatum:
Sendezeit: 9.20 Uhr-10.00 Uhr, Länge: 14'56
Das Gut Varzin im Kreis Rummelsburg, Hinterpommern, war die letzten vier Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts das wichtigste Domizil für den damaligen Ministerpräsidenten und Reichskanzler Otto von Bismarck. Seit dem Ende des 2.Weltkrieges gehört Varzin zu Polen, heißt jetzt Warcino und beherbergt im Schloß eine staatliche Forstfachhochschule.
Gehörte Varzin früher zum schwierigen Erbe der Volksrepublik
Polen, geht man heute, 100 Jahre nach dem Tod von Bismarck, ganz
anders mit der Geschichte des Ortes um - Susanne Lettenbauer zu
Vergangenheit und Gegenwart eines historischen Ortes:
Die weißen, schmiedeeisernen Torflügel sind weit nach außen geöffnet. In Vierer- und Fünfergruppen strömen die Schüler in grünen Forstuniformen den Weg vom Schloß herab nach Hause. In dem Pförtnerhäuschen am Tor sitzt schon einige Jahre keiner mehr und auch keiner kontrolliert die deutschen Besucher, die noch Ende der achtziger Jahre scheu durch den Zaun gespäht hatten. Leicht bergauf in den Park hinein liegt links das Schloß, grau verputzt und dunkel im Schatten der Bäume. Rechts ein kleiner Fachwerkbau, daneben ein dreistöckiger Neubau, nur wenige Jahrzehnte alt, aber bereits ein wenig heruntergekommen. Es ist Prüfungszeit in der Forstschule, die Sonne steht hoch und die hüglige Landschaft im Osten von Hinterpommern magnetisiert mit ihrer Natürlichkeit, die um Varzin herum in Wildnis übergeht. Und gerade diese Unberührtheit faszinierte Graf Otto von Bismarck, den ersten deutschen Reichskanzler. Der Weg hierher beginnt in Zuckers zwischen Stolp und Rummelsburg. Über Missow und Bartin führt die Straße, die zwischen Asphalt und Kopfsteinpflaster wechselt. Hat sich hier etwas verändert, seit im Frühsommer 1867 zum ersten Mal der preußische Ministerpräsident Bismarck auf sein neuerworbenes Gut Varzin fuhr? Nun - die Papierfabrik Hammermühle bei Varzin, einst von Bismarck gegründet und bis zum Krieg das größte Industrieunternehmen in Ostpommern, arbeitet nicht mehr, auch die Holzschleifereien des Reichskanzlers gibt es nicht mehr, dafür wirkt der Ort mit seinem Schloß umso urtümlicher. Schon vom Ortseingangsschild aus kann man durch die Alleenbäume hindurch den spitzen Turm des Schlosses erkennen. Varzin liegt in einer Senke rings von Wald umgeben und vermittelt dadurch umso mehr den Eindruck von einer Waldlichtung. Johanna von Puttkamer, die seit 1847 die Ehefrau von Bismarck war und aus einem alten pommerschen Adelsgeschlecht stammte, hatte einen ähnlichen Eindruck: Pommern! Eineinhalb Stunden vor Varzin wirds erträglich und Varzin selbst ist reizend, richtige Oase in der langweiligen Wüste.(...) Johanna, die immer als eine eine ruhige, fügsame Frau beschrieben wird, sollte Varzin eine besondere Bedeutung geben. Tief der pommerschen Tradition verbunden, die immer auch pietistisch-prothestantische Züge trug, versuchte sie aus dem alten Gutshaus so gut es ging ein wirkliches Schloß für die von Bismarcks zu machen. Einst im Besitz der Familie von Zitzewitz, danach in den Händen des Grafen von Podewils und der Familie Blumenthal hatte das Haus viel von seinem früheren Reiz verloren: Das Haus ist ziemlich scheußlich, ein altes verwohntes Ungetüm mit 10 000 Kammern und Winkeln, schiefen Decken und Fußböden, so daß man Versenkung und Einstürzung auf Schritt und Tritt befürchtet. Vier Zimmer oben und vier unten sind erträglich, alle anderen sind Scheusäler - aber der Park so wunderreizend, wie man selten findet. Solche dicken, kräftigen, alten Buchen und Eichen habe ich weder im Harz noch Taunus, noch Oden-, noch Schwarzwald gesehen. (Johanna von Bismarck an Robert von Keudell, 15.Juli 1867) Das Gut Varzin mit seinen über 22 000 Morgen war Ende April 1867 von einer Dotation Wilhelm I. für Bismarcks Sieg ein Jahr zuvor über Österreich gekauft worden. Damit erfüllte sich Otto von Bismarck einen Wunsch, den er schon seit seiner Kindheit und später während seiner Zeit als "toller Junker" im pommerschen Kniephof gehabt hatte. Das Leben eines Junkers mit all seinen Anschauungen entsprach voll und ganz dem Charakter Bismarcks. Zeit seines Lebens versuchte er, die Anzahl und Flächen seiner Ländereien zu vergrößern. So wurde der Varziner Besitz noch um 10 000 Morgen erweitert und dabei aber der Komfort im alten Herrenhaus vernachlässigt. Die Wälder und Jagden standen in vielen Fällen über seinen Beziehungen zu Menschen und das verstärkte sich in Varzin, das 57 km weit von der nächsten Bahnstation lag nur umso mehr, wie ein Brief an seine Frau vom Juni 1867 zeigt: Wenn ich gefrühstückt und gezeitungt habe, wandre ich mit Jagdstiefeln in die Wälder, bergsteigend und sumpfwatend, lerne Geografie und entwerfe Schonungen; sobald ich heimkehre wird gesattelt und dasselbe Geschäft bis zum Überdruß ...fortgesetzt...Es gibt doch sehr dicke Buchen hier, auch Balken und Blöcke, Wüsteneien, Schonungen, Bäche, Moore, Heiden, Ginster, Rehe, Auerhähne, undurchdringliche Buch- und Eichenaufschläge und andere Dinge, an denen ich meine Freude habe, wenn ich dem Terzett von Taube, Reiher und Weihe lausche oder die Klagen der Pächter über die Untaten der Sauen höre. (Brief 30.Juni 1867 Bismarck an seine Frau) Nur sehr, sehr selten kam hoher Besuch in das alte Varziner Schloß. Noch als Ministerpräsident und auch als Reichskanzler zog sich Bismarck monatelang in die hinterpommerschen Wälder zurück. Dort wartete er trotzdem ungeduldig auf Post aus Berlin, denn nichts sollte ohne seinen Willen geschehen, von allem wollte er in Kenntnis gesetzt werden. Da waren die süddeutschen Länder, die sich gegen eine Einbeziehung in den Norddeutschen Bund wehrten, da war auch Lepold von Hohenzollern, dessen Ernennung zum König von Spanien Europa entzweite und da war letztlich der Kampf um den Erhalt der deutschen Einheit gegen einen verachtungswürdigen neuen Kaiser, Wilhelm II. Aus Varzin kam Bismarck auch im Juli 1870 in die Hauptstadt, als es längst schon zu spät war für ein Eingreifen im dt.-franz.Konflikt, das den Krieg hätte verhindern können. Einige Male kam der Jugendfreund und Intimus Alexander Keyserling aus seiner baltischen Heimat nach Varzin und zerstreute den Kanzler ein wenig. Eine Ausnahme machte der diplomatische Besuch des österreichisch-ungarischen Außenministers Kálnoky 1884, mit dem der Reichskanzler über den "Drei-Kaiser-Vertrag" zwischen Rußland, dem vereinigten Deutschland und der Habsburger Monarchie verhandelte. Im Schloßpark steht noch immer die nach diesem Treffen benannte Kálnoky-Eiche, ein Zeichen für den fast liebevollen und romantischen Umgang mit Bäumen in Bismarcks Umkreis. Und diese Bäume und sein Park mit dem riesigen Wald dahinter stehen noch immer. An ihnen sind die wechselnden Schloßherren und wechselnden nationalen Republiken nahezu spurlos vorüber gegangen. Ein Schritt von Bismarck ist heute ein Schritt von polnischen Schülern, die ebenso wie die nahe, historische Gestalt sich dem Wald verschrieben haben, und manchmal sogar aus Schlesien an die bekannte Schule von Varzin kommen: Das war schon bekannt in meiner Familie. Das geht nämlich darum, daß die Familie von Bismarck und das Schloß schon in meiner Heimat, in meinem Elternhaus bekannt waren. Im Flur hängt bis heute ein Bild von dem Schloß mit dem Reichskanzler und das war also bekannt und als ich die Möglichkeit bekam, daß ich in Varzin arbeiten kann, da habe ich gesagt: Naja, natürlich, sofort, warum nicht? Also das war schon bekannt für mich in Pommern. 51 Peter Manka ist seit 18 Jahren in Varzin, gehört zur Leitung der Frstfachhochschule und fühlt sich in Hinterpommern mittlerweile wie zu Hause. Aber die historische Bedeutung des Ortes in der jetzt die polnische Forstfachhochschule lehrt - ist sie ihm wichtig ?: Selbstverständlich, selbstverständlich. Das ist ein Abenteuer, in Varzin zu hören, was die Geschichte zu sagen und zu zeigen hat und man fühlt sich ganz besonders. Also auf jede Schritt und Tritt wird Geschichte erzählt und die Steine sind geblieben, die Bäume sind geblieben, das Schloß ist geblieben, die Bilder - also wirklich, wie gesagt ein Abenteuer dort zu leben, weil man weiß, daß dort wirklich die europäische Geschichte konstruiert worden ist und ich fühle mich da total gut und besonders wohl in Varzin mit der Geschichte. 52 Ein wenig anders als vor etwas mehr als 100 Jahren sieht das Schloß von außen und innen jetzt natürlich aus. Im Eingangsbereich wird man von einem riesigen, offenen Kamin empfangen. Der einserne Keiler des Reichskanzlers steht heute im Eichensaal und das ehemalige Empfangszimmer ist zum Lehr- und Prüfungsraum umfunktioniert worden. Auch der historische Schreibtisch steht nicht mehr in Bismarcks Arbeitszimmer, sondern im Arbeitszimmer des Direktors Wieslawa Lesnera: Also ich fühle mich sehr wohl. Wie Sie sehen ist der Schreibtisch etwas größer als andere Schreibtische und deshalb hat man viel Platz um sich alle Papiere anzusehen und er ist wirklich sehr bequem zu arbeiten. Nr.20 (Direktor Wieslawa Lesnera) Der massige schwarze Tisch erstaunt wirklich mit seinen Ausmaßen - gut 2 Meter breit und 5 Meter lang mag er sein, nur die Beine waren nach dem Krieg nicht mehr aufzufinden, so daß der Tisch ein wenig niedrig ist, aber das interessiert den Direktor nicht sonderlich, er ist stolz auf seine Arbeit in Varzin, und weiß, wessen Platz er eingenommen hat: Wir kennen ganz genau die Geschichte des Schlosses und wir wissen sehr genau, wer hier früher wohnte. Wir haben sehr oft die Gelegenheit, die Geschichte zu erzählen, für die Touristen aus der Bundesrepublik, aber auch für polnische Touristen. Seit 1946 gibt es jetzt hier eine polnische, technische Forstschule und wir sind alle sehr zufrieden, auch die Leute, die hier als Forstleute kommen und die Leute, die hier Forstwirtschaft gelernt haben und auch die Gäste, die sich für die Geschichte interessieren. Wir freuen uns, wenn die Gäste aus der Bundesrepublik zu uns kommen und wir kommen zu ihnen mit unserer Gastfreundschaft und wir zeigen ihnen alles, was wir zu zeigen haben. Wir möchten auch nicht verstecken, daß wir auf die Kontakte rechnen in der Zukunft. Nr.18 Dieser Wunsch ist noch relativ neu: Geschichtstourismus in Varzin war noch vor zehn Jahren gar nicht so gern gesehen. Peter Manka weiß davon und ist eigentlich froh, daß er heute allen Neugierigen die Möbel von Bismarck zeigen kann. Ganz neu ist auch das Angebot, daß man im Varziner Bismarck-Schloß Konferenzen, Bankette und private Feste organisieren und auch individuellen Urlaub sehr günstig buchen kann. Der Jagdtourismus darf natürlich auch nicht fehlen. Bereits seit einigen Jahren wird er in zunehmendem Maße besonders von Skandinaviern und Niederländern in Anspruch genommen. Doch noch vor dem politischen Umbruch in Osteuropa setzte sich die Volksrepublik Polen nicht besonders für das historische Erbe ein, war es vielleicht zu unbequem?: Ja vielleicht. Vor 15 oder 20 Jahren, vor der Wende. Es gibt sogar einen Film "Das unbequeme Erbe", das war wirklich unbequem für die polnische Politik, aber vor der Wende. Ich glaube, daß ist jetzt nicht mehr so wichtig, man hört öfter und öfter, daß wir zusammen leben in Europa und das ist nicht zu verstecken, daß also damals vor 130 Jahren die Familie von Bismarck hier lebte und der Reichskanzler selbst auch. Das ist nicht zu verstecken, aber das ist nicht mehr so unbequem wie vor der Wende. Das ist ganz normal - man lebt, das Leben geht weiter. 54 Und daß das Schloß Varzin lebt und lebendig geblieben ist, daß zeigen die Anmeldungen von zahlreichen Schülern jedes Jahr, von denen nur 50 angenommen werden können. Und unter diesen neuen Studenten sind manchmal sogar die Kinder oder Enkel eines früheren Absolventen der Schule. Wjatoslaw Lesnik ist einer jener Väter, die sich eine Aufnahme in Varzin für seinen Sohn wünscht: Also, das ist sehr wichtig für meinen Sohn. Er hat meine Arbeit gesehen, hat den Wald gesehen, hat das Gut gesehen und gut verstanden und er möchte auch wie sein Vater arbeiten in der Zukunft. Ich habe selbst vor 15 Jahre diese Schule beendet als Absolvent. Als Schüler, als ich also an der Schule war, muß ich sagen, da konnte man die geschichtliche Atmosphäreatmen und verstehen. Wir fühlten uns hier sehr wohl als Schüler, in der schönen Lage, mit den schönen Wäldern, den besten, die wir hier in der Nähe haben, haben und hatten immer einen großen Einfluß auf meine Arbeit, aber ich denke sehr gern an die Schule, an das Schloß und die schönen Wälder, die in der Nähe sind zurück. Nr.20 (Vater mit Sohn) Den anderen 300 Mädchen und Jungen, die die Aufnahme für das fünfjährige Studium geschafft haben, sieht man den Stolz über ihr Schloß und den Park problemlos an:
Also, ich muß ganz ehrlich sagen, daß wir uns hier in der Schule, im Schloß sehr wohl fühlen, obwohl wir nur 10 Mädchen sind, aber wir lernen und arbeiten mit unseren Kollegen zusammen und das spielt keine Rolle, daß wir nur so wenig Mädchen sind. Wir sind zufrieden und wir fühlen uns sehr wohl. Also, ich habe mich sehr gefreut, daß ich die Gelegenheit bekam, an diese Schule zu kommen und es gibt bei uns eine Tradition: Es ist an unserer Schule vorwiegend so, daß die Kinder, die heute in der Schule sind, schon die 2. oder 3.Generation sind. Die Eltern haben auf der Forstschule gearbeitet und der Opa oder der Onkel und die Tante. Jeder hat schon die Kontakte mit der Forstwirtschaft und mit der Schule. Ich bin die einzige bei mir in der Familie, die Forstwirtschaft studiert, aber ich wohne in der Nähe vom Wald, ich liebe ihn sehr und verstehe ihn und deshalb wollte ich Forstwirtschaft studieren. Nr.22+23
Also schon wenn man hier ankommt und hereinkommt, weiß man ganz genau, daß das Schloß und der Park eine wichtige Rolle in der Geschichte gespielt haben. Das Schloß hat eine wunderbare Lage und eine schöne Atmosphäre und deshalb macht es wirklich viel Spaß, wenn man weiß, daß man in diesem Schloß zur Schule gehen kann und daß man in diesem Schloß studiert. Die Atmosphäre ist sehr gut. 24 Zitat von Bismarck über Natur !!! 300 Morgen war der Park damals groß. Der Reichskanzler Otto von Bismarck war besonders stolz, den Park hat er selbst konstruiert und auch viele Bäume gepflanzt. Leider, nach dem Krieg ist es alles nicht so schön wie früher, aber jetzt schon seit 10 Jahren haben wir die Arbeit angefangen, um etwas wieder zu rekonstruieren. Wir haben nämlich die schönen Fotobilder und Xerokopien bekommen aus der Bundesrepublik und jetzt haben wir endlich die Möglichkeit, etwas im Park zu tun, d.h. daß wir das mit den Schülern zusammen machen. Die Schüler bekommen die Diplomarbeiten nämlich im Park und die rekonstruieren nun jedes Jahr den Park ein bischen weiter. Die Arbeit haben wir mit einer kleinen Holzbrücke angefangen und dann kamen die Blumenterassen und wie gesagt, jedes Jahr machen wir ein bischen weiter, um den Park wieder zu rekonstruieren. (Peter Manka)55 Der Blick aus dem Empfangszimmer auf der Südseite geht über eine Holzbrücke in den Park hinein. Den kleinen Familienfriedhof kann man von hier nicht sehen, aber zu Fuß läuft man eine Schneise entlang in den Buchenwald bis zu den steinernen Grabplatten der einstigen Besitzer von Varzin. Hier läßt man die polnische Forstschule hinter sich und sieht wieder den Reichskanzler mit Jägerstiefeln und Brille durch seinen Wald ziehen. Mittlerweile war zu seinen Gütern noch Friedrichsruh im Herzogtum Lauenburg gekommen, dem Varzin mehr und mehr den Vorang geben mußte. Doch sein pommersches Gut bedeutete für Bismarck vor allem noch immer Natur. Hier diktierte er seinem Anhänger Lothar Bucher seine Erinnerungen und Gedanken für die Memoirenausgabe und hier langweilte er sich nach seiner Amtsniederlegung 1890. Erst als ein alter Kastanienbaum bei einem Besuch des Ehepaares 1894 vor der Einfahrt zusammenbrach und den Weg versperrte, wußte Bismarck dies als böses Omen zu deuten. Kurze Zeit darauf verstarb seine Frau und Otto von Bismarck verabschiedete sich endgültig vom Schloß Varzin, um nach Friedrichsruh zu ziehen. Zitat Bismarck !!! Doch die Geschichte der Familie von Bismarck endet in Varzin erst mit dem Ende des 2.Weltkrieges. Bis zum Januar 1945 gehörte das Haus den Bismarcks und die ostpreußische Gräfin Marion Dönhoff war wohl die einzige, die das letzte Stück deutsche Geschichte im Schloß zu Varzin noch erlebt und aufgezeichnet hat. Auf ihrem Ritt von Ostpreußen gen Westen machte sie im Januar 1945 kurz Rast in Varzin und hat uns damit ein letztes Bild von einer versunkenen Welt überliefert:
Damals lebte noch die Schwiegertochter des Kanzlers, eine kleine,
feingliedrige, höchst amüsante uralte Dame, die in ihrer
Jugend oft Anlaß zu mancherlei Stirnrunzeln gewesen war:
Sie hatte Jagden geritten, Zigarren geraucht und sich durch Witz
und Schlagertigkeit ausgezeichnet...Der Trecker, den wir hatten
stehen sehen, war bereits ohne die alte Gräfin losgefahren,
die nicht dazu zu bewegen war, Varzin zu verlassen. Alle Warnungen
und Vorstellungen fruchteten nichts. Sie war sich ganz klar darüber,
daß sie den Einmarsch der Russen nicht überleben würde.
Sie wollte ihn auch nicht erleben, und darum hatte sie im Park
ein Grab ausheben lassen (weil dazu nachher niemand mehr Zeit
haben würde). Sie wollte in Varzin bleiben und sich bis zum
letzten Moment an der Heimat freuen. Und das tat sie mit großer
Grandezza. In ihrer Umgebung war alles wie immer. Der alte Diener,
der auch nicht weg wollte, servierte bei Tisch. Es gab einen herrlichen
Rotwein nach dem anderen - Jahrgänge, von denen man sonst
nur in Ehrfurcht träumt. Mit leinenm Wort wurde das, was
draußen geschah und was noch bevorstand, erwähnt. Sie
erzählte lebhaft und nuanciert von alten Zeiten, von ihrem
Schwiegervater, vom kaiserlichen Hof und von der Zeit, da ihr
Mann, Bill Bismarck, Oberpräsident von Ostpreußen gewesen
war. Als ich dann schließlich Abschied nahm und wir weiterritten,
sah ich mich auf halbem Weg zum Gartentor noch einmal um. Sie
stand gedankenverloren in der Haustür und winkte noch einmal
mit einem sehr kleinen Taschentuch. Ich glaube, sie lächelte
sogar - so genau konnte ich es nicht sehen. (Marion Gräfin
Dönhoff, Namen, die keiner mehr nennt. S.29/30)
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