Angst

Deutsche Erstaufführung: Arthur Miller "Scherben" (Broken Glass) am Münchner Residenztheater

(Inszenierung: Gerd Heinz, Musik: Mattias Thurow, Bühne und Kostüme: Stefanie Seitz)

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Anmoderationsvorschlag:


Der nunmehr bald 82jährige Arthur Miller, bekannt vor allem durch den "Tod eines Handlungsreisenden" von 1949, hat mit seinem neuesten Stück "Broken Glass" ein Werk vorgelegt, daß den Altmeister der Familientragödien und des psychologischen Realismus bestätigt.

Am Münchner Residenztheater wurde die Deutschsprachige Erstaufführung (Übersetzung Inge Greiffenhagen und Bettina von Leoprechting) einstudiert.

Susanne Lettenbauer hat sich das Stück angesehen und mit Karl Lieffen, einem der Hauptdarsteller gesprochen:



Wann ist man ein Jude ? Durch die Geburt ? Und wie geht ein Jude mit seiner Herkunft um?

Daß diese Fragen eine ganze Beziehung, eine bereits 25 Jahre andauernde Ehe seit langem kaputt machen, zeigt Arthur Millers neuestes Werk "Broken Glass", auf deutsch "Scherben", dessen Uraufführung 1994 in New York war.

Philipp und Sylvia Gellburg, auf der schlichten Bühne von Johanna Gastdorf und Peter Rühring dargestellt, leben ihre bürgerlich-solide scheinende Existenz in Brooklyn November 1938, ihr Sohn Jerôme macht Karriere beim amerikanischen Militär, als Sylvia, plötzlich nicht mehr laufen kann...ihre Beine versagen ihr den Dienst, die Ärzte wissen nicht, warum.

Die Eheleute wollen sich voreinander entschuldigen, die Frau wegen ihrer Lähmung, der Mann, wegen ihres Zustandes. Der hinzugezogene Arzt Hymann, dargestellt von dem brillanten Wolfgang Hinze, merkt schnell, daß die Lähmung psychologische Ursachen hat. Mit schmerzhafter Intensität beginnt er nach Verdrängtem zu forschen, will irgendwann den Fall aufgeben, setzt die Behandlung dann doch fort, da er, selbst auch Jude, anfängt, die Verfolgungsangst der Frau mit den Ereignissen im Deutschen Reich zu verbinden, obwohl beides eigentlich ozeanweit entfernt ist.

Ein Stück also, daß genau die aktuelle Diskussion um Judenprogrome, SS-Vergangenheit und Antisemitismus trifft.

Einer, der schon in dem "Tod eines Handlungsreisenden" in München mitspielte, ist Karl Lieffen...diesmal Immobilienhai Stantun Case:

O-Ton: Wir waren sehr gespannt...waren wir sehr gespannt. 0159-0185

Arthur Miller, ein Meister des psychologischen Realismus, hat...wie in vielen seiner Stücke...auch in seinem jüngsten Werk die Familie als Zentralmotiv gewählt. Die Ehe, die Familie als Grundlage der Gesellschaft. Im November 1938, als die ersten Bilder über Judenverfolgungen in der TIMES veröffentlicht werden, stellt sich bei Philipp und Sylvia die Familie in Frage:

O-Ton: Dieses Stück ist deshalb...spiele ich sehr gern. 229-269

Immer mehr zersplittert diese Ehe unter dem Leiden Sylvias, das Philipp bald als von ihr simuliert annimmt, worauf sie sich darauf versteift, er will sie als verrückt erklären. Man mag annehmen, solche Konflikte können in jeder Beziehung einmal vorkommen, Arthur Miller spitzt die surrealen Auseinandersetzung aber unlösbar zu..solange, bis der Mister Gellburg, bis dato noch Abteilungsleiter in der Stantun-Case-Immobilienfirma, vor seinem Chef zusammenbricht - Herzinfarkt.

O-Ton: Es ist für Schauspieler...unheimliche Präzision. 340-398

Als kranke Menschen erzählen sich die so fremden Gatten einander ihr Leben, das sie seit der Heirat geführt haben...sie von ihm zur Hausfrau gezwungen, er durch ihren Hausfrauenfrust impotent. Eine klassisch strindbergsche Szene des "Krieges der Geschlechter" - nur kommen noch die politischen Verhältnisse dazu, die diesen Scherbenhaufen vergrößern. Wahrscheinlich hätten sie es sonst noch nicht einmal gemerkt...ihr Versagen voreinander.

O-Ton: Das ist eine Dramatik...keinen Moment langweilig. 443-511

Als Jude geboren zu werden, so ist die letzte wütende Frage Philipps vom großen Krankenbett aus an den Arzt, bedeutet das auch anders zu sein als alle anderen?

Die Antwort schockiert ihn: Es gibt auch chinesische Juden. - Die sind Chinesen und sehen auch so aus. Und...jeder ist anders als die anderen, ist ein bischen verrückt und hat Angst - Hitler am meisten.

Philipp, ein gebrochener Mann, ohne Anstellung und mit einer riesen Herzensangst vor der Welt und vor sich selber, ist es - zwiefach deutbar - möglich, seine Frau wieder auf die Beine zu bringen.

Sie verläßt den Rollstuhl, als er nach einem erneuten Herzanfall zurück ins Bett sinkt.