Der Kontrapunkt auf der Leinwand - Der Maler Lyonel Feininger als Komponist SWR 2 Do/11.11.99, 22.05-23.00 Uhr,(Musikfeuilleton)

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Musik 1: J.S.Bach Kunst der Fuge, Contrapunctus 1 (Bearb. für 2 Cembali) bis 0'26 darauf:

Zwei Kirchtürme erheben sich aus dem Häusermeer, kantig, ineinandergeschoben, der eine hoch aufstrebend, der andere geduckt - zwei Gegenspieler, die das Gemälde im Gleichgewicht halten - das Gemälde heißt Die Türme über der Stadt. (Musik 1 abbl.!)
In hellen ockerfarbenen Tönen strahlt dieses Bild von Lyonel Feininger aus dem Jahre 1931 Leichtigkeit und Transparenz aus, trotz der Strenge der geraden Linien.
Dieser Feininger der 30er Jahre erinnert fast überhaupt nicht mehr an den Feininger der Jahrhundertwende, den Meister der Karrikatur, der für Das Narrenschiff, die Burenstreiche, den Ulk und andere Berliner Satireblätter arbeitete. War Feininger um 1900 knapp dreißig Jahre alt, fehlten bis zu seinem Schlüsselerlebnis, das seine künstlerische Betätigung und den Malstil entscheidend verändern sollte noch 20 Jahre.
In diesen 20 Jahre beschäftigte er sich mit dem Kubismus eines Georges Braque, Wassily Kandinsky und Paul Klee und wurde 1919 Bauhausmeister in Dessau. Dann entdeckte er für sich noch einmal den Altmeister der Fuge Johann Sebastian Bach:

Musik 2: J.S.Bach Kunst der Fuge, Contrapunctus 1 (Bearb. für 2 Cembali) ab 0'50 bis 3'21

Es ist im Sommer 1921.
In seinem Maleratelier in Weimar hat sich der Maler Lyonel Feininger mit seinem Freund, dem Komponisten Hans Brönner in eine intensive Unterhaltung über Musik vertieft. Feininger zu Brönner:

Zitat 1: Du hast eben und in letzter Zeit öfters, auffällig von einer Kunst der Fuge gesprochen. Eigentlich solltest du wissen, daß mir die Fuge als höchstes musikalisches Kunstwerk sehr bekannt und ganz vertraut ist, oder willst du etwa damit sagen, daß es von Bach ein Werk mit einem solchen Titel, vielleicht ein theoretisches geben sollte? Ein solches Werk von Bach?...und das sollte ich nicht kennen?...Das ist undenkbar...das ist unmöglich...das glaube ich nicht!...

Feininger ist bereits 50 Jahre alt, als er das erste Mal die damals einzig anerkannte und maßgebliche Ausgabe der Kunst der Fuge aus dem Leipziger Peters-Verlag in den Händen hält, ein Geschenk von Hans Brönner. Der Maler ist dermaßen überwältigt von dieser Neuentdeckung, daß die darauffolgenden Jahre geradezu fieberhaft der Beschäftigung mit Bach gewidmet werden.
In Lyonel Feininger vollzog sich mit der Wiederentdeckung Bachs eine ähnliche Wandlung wie 100 Jahre zuvor bei Felix Mendelssohn-Bartholdy. Seit dieser ebenfalls zum Geburtstag das Manuskript der Bachschen Matthäuspassion bekommen hatte, begann die eigentliche Bach-Renaissance 1829. Und mit ihr der Eintritt der Musik in ihr historisches Zeitalter.
Daß J.S. Bach nicht erst Künstler des 20. Jahrhunderts sondern bereits Goethe zu beeindrucken wußte, zeigt, daß die seit Bachs Tod 1750 fast vergessene, aber trotzdem überragende Kompositionsart der Fuge damals wie heute sein Wirkung ausübte:

Zitat 2: ...als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich's etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung möchte zugetragen haben. So bewegte es sich auch in meinem Inneren und es war mir, als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen und weiter keine übrigen Sinne besäße und brauchte... 1824

Waren bis dato nur Werke zeitgenössischer Komponisten gespielt worden, begann nun die Beschäftigung mit den Komponisten des Mittelalters wie Josquin Desprez, dann folgten die Fugen des Lübecker Organisten Dietrich Buxtehude, dem Vorläufer Bachs. Plötzlich war alles interessant, was die schwelgende Romantik ablösen konnte durch nüchterne und klare Strukturen, denn nur die strenge Bestimmtheit der Gedanken verhilft zur Leichtigkeit", so Friedrich Schiller.
Kein Wunder also, daß Fugen bei Beethoven, Mozart, Schubert, Weber und Schumann zum täglich Brot" gehörten. Doch nicht zur Erbauung wurden sie gespielt, sondern zuallererst zum Schulen des Gehörs, zum Erlernen der Harmonie in der Musik und ihrer schulmeisterlichen Strenge, so daß sich schon bald ein altväterliches Negativimage der Fuge bemächtigte.
Hatte sich Lyonel Feininger also in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts nach eben dieser Strenge von Harmonie, einer Strenge der Gedanken gesehnt, um vorwärtszukommen mit seiner Malerei?

Es ist 1921 nicht das erste Mal, daß der Maler Feininger von musikalischen Fugen hört. Der in New York 1871 geborene Leonell Charles Adrian Feininger kam mit 16 Jahren vor allem deshalb nach Deutschland, um Musik zu studieren. Sein Vater, der Geiger Karl Feininger und seine Mutter, eine begabte Sängerin hatten ihn auf das Leipziger Konservatorium schicken wollen, damit er dort Geige studiert. Stattdessen nahm er an der Hamburger Gewerbeschule Zeichenunterricht und zog dann nach Berlin, wo er mit dem Organisten Fred Werner zusammenwohnte. Trotz seiner Aufträge als Karrikaturist für Zeitungen und Zeitschriften begeisterte er sich noch immer für Musik, sie gehörte zu seinem Malen dazu, wenn auch noch nicht so sehr wie später. Von seinem Mitbewohner lernte er das Wohltemperierte Klavier von Bach kennen.

Musik 3: J.S. Bach Wohltemperiertes Klavier 2. Buch Präludium und Fuge in fis-Moll, Glenn Gould ca. 9'04

Lyonel Feininger hatte bereits als junger Maler in seinen eigenen Worten die Vision einer Malerei, die von der gleichen, vielstimmig aufeinander bezogenen Komplexität und gleichzeitig folgerichtigen Durchschaubarkeit getragen war wie die Kompositionen von Bach."

Zitat 3: Von größter Wichtigkeit ist, die Ausdrucksmittel zu vereinfachen. Immer mehr wird mir das klar wenn ich zu Bach komme.

Ist ist eigentlich erstaunlich, daß Feininger als Vertreter der Bauhausgeneration erst relativ spät die Musik für sein Malen entdeckt ?
Bereits in den stilbildenden Pariser Herbstsalons der Vorkriegszeit waren Werke mit musikalischem Hintergrund keine Seltenheit mehr: 1912 hatte der Tscheche Frantisek Kupka seine Fuge in zwei Farben" ausgestellt, im selben Jahr malte George Braque seine Hommage á Johann Sebastian Bach" .
Augusto Giacomettis Chromatische Fantasie" folgte 1914, kurz darauf war Kandinskys Fuga" ausgestellt worden. Viele Künstler, vor allem die Kubisten wandten sich zur Jahrhundertwende vom Pompösen, Naturalistischen und Überschwenglichen des Symbolismus ab, hin zu einer reinen Logik, zu strengen Linien.
Die Kuratorin der Stuttgarter Staatsgalerie, Karin Maur, hat sich besonders mit dieser Epoche beschäftigt:

O-Ton 1: Es gibt eine ganze Reihe von Künstlern...das ist eine Antithese zu Wagner. 0'35 (10)

Man könnte fast von einer Manie sprechen, die Maler, Schriftsteller und Komponisten nach allen möglichen Überschneidungsformen zwischen den einzelnen Künsten suchen ließ. Johannes Itten, der Bauhauskollege von Feininger entwickelte z.B. eine Farbkurve, die Farbe, Ton, Zeit und Raum als dialektische Einheit betrachtete. Die zwölf Tonhöhen sollten seiner Meinung nach den sieben Lichtstufen, also den Spektralfarben, entsprechen. Er versuchte auch, die mittelalterliche Polyphonie auf die Malerei zu übertragen. Die Merkmale der musikalischen Mehrstimmigkeit sollten wegführen von Subjektivität hin zu objektiven, d.h. einfachsten Formen ohne symbolische Belastungen.
Ähnlich propagierte seine Kollegin am Bauhaus, Gertrud Grunow die Erziehung des Menschen durch Auge und Ohr" - eine Art antroposophische Harmonisierungslehre, die der Farbe weiß den Ton c zuordnete, der Farbe blau den Ton e usw. Die Gesetze der Musik spielten die zentrale Rolle, nicht nur für die Maler, sondern auch Komponisten - die strukturellen Analogien, daß die Obertonreihen den Proportionen der Malerei entsprechen, werden ja nur zu gut durch Mussorgskis Bilder einer Ausstellung" verdeutlicht.
Der Austausch zwischen Künstlern aller Genres war im Bauhaus von Weimar gang und gäbe. So referierte Paul Klee, selbst engagierter Geiger, über den Einfluß der Musik auf die Malerei, Arnold Schönberg und Paul Hindemith komponierten Fugen und selbst Enrico Caruso, der Startenor jener Jahre entdeckte daß er lieber gezeichnet als gesungen" hätte. Die ist die Umgebung in der Feininger lebte.
Das Treffen mit Strawinsky hinterließ bei ihm besonderen Eindruck:

Musik 4: Strawinsky Konzert für 2 Klaviere, 4. Satz fugata":

Zitat 4: Die Fuge - eine vollkommene Form, in der die Musik nichts jenseits ihrer selbst bedeutet. Bedingt sie nicht die Unterwerfung des Autors unter die Regel? Und findet er nicht gerade in diesem Zwang die Entfaltung einer schöpferischen Freiheit?" - aufblenden:

Musik 4: Strawinsky Konzert für 2 Klaviere, 4. Satz fugata"


Hatte Feininger in der (im Grunde) zweiten Bachrenaissance Anfang des 20. Jahrhunderts die Bilder von Paul Klee und Georges Braque mit den Titeln Hommage à J.S.Bach und Fuge in Rot gesehen, so begann er seine ab 1915 entstehenden Bilder nicht nach Musikmotiven zu bennen, sondern die Technik der Fuge konkret als Malstil anzuwenden.

Zitat 5: Bach, weißt du, Bach, wenn ich ihn höre, so wie heute, oh da kann ich nicht sagen, was in mir für eine Welt aufgeht!...

So schwärmte Feininger in einem Brief an seine Frau Julia.
Die Fugengemälde von Feininger, wenn man sie so bezeichnen möchte, kann man in zwei Epochen einteilen - diejenigen vor 1921, also vor der Bekanntschaft mit Bachs Kunst der Fuge, sind noch nicht gekennzeichnet von der direkten Ton-Farbe-Übertragung wie nach 1921. Die Sehnsucht nach Monumentalität und sein Sinn für Feinabstimmung machen sich aber bereits ab 1917 bemerkbar. Karin von Maur:

O-Ton 2: Es kommt natürlich hinzu...im Bild wie auch in der Musik. (0'51) > (9)

Sein Gemälde Gelmeroda VII" von 1917 ist geprägt von der Suche nach fugalen Elementen - das Thema, der Kirchturm, taucht abgewandelt immer wieder auf, ob durch Spiegelung in der Luft oder teilweise Wiederholung parallel des herausragenden Turmes. Anders wirkt dagegen sein Gemälde von 1926 Stiller Tag am Meer".
Das Meer, so wie es ihn faszinierte, fand er jedes Jahr im ostpommerschen Deep bei Kolberg - die gerade Linie des Horizontes, dazu die strengen Geometrien der Segelschiffe auf dem leicht bewegten Wasser...das waren genau die objektiven, naturgegebenen Formen, die das Bauhaus suchte und die Feininger in Pommern fand, so Peter Jancke aus Kolberg:

O-Ton 3: Da ist er eingekehrt einmal...von diesem Kamper See entfernt. 0'49 (3)

Musik 5: Feininger Fuge I 1921, 6'36


Lyonel Feininger verwirklicht nach der Erschütterung" - wie er es selbst formuliert - durch die Kunst der Fuge seinen Wunsch, eigene Fugen zu schreiben. Als Autodidakt auf dem Klavier kann er sich dabei nur auf seine Übungen aus dem Wohltemperierten Klavier stützen. Doch die soll er, glaubt man seinem Sohn Lawrence, in allen Tonarten auswendig gespielt haben können.
Der Berliner Komponist Kurt Dietmar Richter, Verfasser etlicher von Feininger inspirierter Klavierstücke und bisher einziger Interpret der Feininger-Fugen auf CD:

O-Ton 4: Das schwierige kommt wahrscheinlich daher...ob das auch geht. (1'05) > (1-24)

An dem Harmonium in seinem Maleratelier entstehen rasch aufeinanderfolgend drei Fugen für Klavier, dann 10 Fugen für Orgel...sehr schnell bemerkte er die Grenzen des Pianos. Mit einer selbstgefertigten Schablone aus Zink, in die er vorher sorgfältig Notenköpfe, Schlüssel und Pausen eingeschnitten hatte, setzte er jedes Zeichen mit einem nadelscharf zugespitzen Bleistift aufs Notenpapier. Ein Ästhet wie Feininger, wollte natürlich auch das Notenbild künstlerischen Ansprüchen gerecht gestalten.

O-Ton 5: Er hat ja dann immer wieder...eine schizophrene Geschichte. (0'30) > (1-31)

Vielleicht war es unbewußt, daß Feininger die gleiche Anzahl Fugen schrieb, die die Kunst der Fuge an Contrapuncti hat. Bach war und sollte auch sein unübertroffenes Vorbild bleiben:

O-Ton 6: Was ihm viele Leute natürlich ankreiden...eindeutig im Barock angesiedelt. (0'29) > (1-34)

Feininger hielt sich streng an den Bachschen, polyphonen Stil, benutzte das für exakte Fugenkompositionen notwendige Umkehren, Spiegeln, Überschneiden und Durchdringen des Themas. Daß dabei Stücke entstanden, die fast nicht spielbar sind und deshalb bei Aufführungen ohne sein Wissen verändert wurden, bedachte er dabei nicht:

O-Ton 7: Er hat da auch so ein paar Stellen...schon im Unterbewußtsein gelaufen ist. (0'48) > (1-26)

Musik 6: Gigue (Fuge III) 1922 darauf:

Zitat 6: Mein Mitteilungsbedürfnis ist so groß, daß ich es mit Worten nicht ausdrücken kann. Oft setze ich mich an die Orgel und suche Erlösung in Bachs gewaltigen Tönen. Es steigt dann eine Fuge oder ein Choralspiel von weltentrückender Verklärtheit...Ich bin kein Allerneuester, sondern ein Mensch, der mit seiner Zeit brechen muß, um leben zu können. Mag ich dabei auch hinter der Zeit bleiben...

Musik 6: Gigue (Fuge III) 1922, 4'18


Feininger war mit seiner Musik für seine Zeitgenossen nicht hinter der Zeit geblieben.
Im Dezember 1924 erlebte das erste Stück von ihm die öffentliche Uraufführung im Meistersaal des Bauhauses. Bis dahin hat er bereits den größten Teil seiner Fugenkompositionen aufs Papier gebracht in so schwierigen Tonarten wie es-moll und g-moll. Die Bilder jener Zeit sind ohne Frage das Abbild der musikalischen Kompositionsarbeit.
Gelmeroda XII aus dem gleichnamigen Zyklus versinnbildlicht geradezu die Rhythmik der einzelnen Ebenen dieses Dorfes bei Weimar. Wie die einzelnen Komponenten dieses Werkes als Thema und Gegenthema zueinander neu in Beziehung gestzt werden, so daß von diesem schlichten, kleinen Dorf die eigentliche, minimierte Essenz, das (für den Maler) Wesentliche übrigbleibt...wäre in dieser Radikalität wohl ohne Bach schwerlich erfolgt.

O-Ton 8: Also, das ist die höhere Einheit...aber eben keine Fuge malt. 0'25 (Richter) (23)

O-Ton 9: Er hat ja keine große Variationsbreite von Motiven...da haben wir die Kunst der Fuge bildnerisch umgesetzt (Maur) 0'57 (8)

Musik 7: Feininger Fuge II, 1921, 9'39

Zitat 7: Es ist mir persönlich eine große Genugtuung, daß mein Versuch auf autodidaktischem Wege Musik zu gestalten, gerechtfertigt erscheint. Es ist die Parallele zum autodidaktischen unakademischen Schaffen in der Malerei; ein Weg, der bisher von Segen war für diese; und der heute als völlig legitim anerkannt wird; es wollen mehrere namhafte Pianisten schon sich mit dem Studium und öffentlichen Vortrag meiner Werke befassen. (1924)

Lyonel Feininger komponierte von 1921 bis 1928 sein musikalisches Hauptwerk, bis 1935 beschäftigte er sich noch mit Feinheiten, schrieb die Fugen teilweise um und änderte, wo die Form noch nicht seinen Vorstellungen entsprach. 1937 kehrte er aufgrund der immer aggressiveren Situation in Deutschland nach New York zurück. In seiner alten neuen Heimat fand er jedoch nicht mehr die Ruhe, um seine Kompositionen fortzusetzen. Sein strenger, prismatischer Malstil verliert sich mehr und mehr, seine Geige nimmt er nur noch selten in die Hand, vielleicht aufgrund seiner zunehmenden Schwerhörigkeit. Aber bis zuletzt lebt in ihm die Geometrie der Natur - der klare, stille Meeresspiegel der Ostsee mit den weißen Segeln der Boote, die sich am Horizont verlieren.

Musik 8: Feininger Fuge IV für Orgel oder Klavier zu drei Händen, 1922, 6'50.