Thema Geschichtswissenschaft:
Neubewertung der historische Ereignisse im deutschen Widerstand des 3.Reiches? - Prof. Hans Mommsen über neue Erkenntnisse: "Haltung des Deutschen Widerstandes zur Judenfrage" (Sendung 16.07.99 NDR Hamburg Forum 4) _________________________________________________________________________


Anmoderationsvorschlag:

Der Historiker Hans Mommsen gilt unter den Forschern zum Deutschen Widerstand als der unsentimentalste und oft unbequeme Verfechter neuer Theorien, die das Bild der deutschen Widerstandsgruppen zurechtrücken und von verklärten Moralbegriffen befreien sollen.
Zum 55. Jahrestages des Attentats auf Hitler in der ostpreußischen Wolfsschanze meldet sich Prof. Mommsen nun mit einem Vortrag zu Wort, der eine Antwort sein soll auf die vor 5 Jahren im Zusammenhang mit der Wehrmachtsausstellung begonnene kontroverse Diskussion zur "Haltung des militärischen Widerstandes gegenüber der Judenfrage".
Die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Problematik birgt neue und unbequeme Fakten in sich - Susanne Lettenbauer traf Hans Mommsen in Feldafing:




Die militärische Widerstandsgruppe um die "Männer des 20. Juli" wie Henning von Tresckow, Rudolf Freiherr von Gersdorff oder Claus Schenk Graf von Stauffenberg steht im Bewußtsein der Bundesrepublik für den Versuch, die moralische Integrität und deutsche Ehre selbst unter Einsatz des eigenen Lebens zu retten.
Diese Meinung, jahrelang zum Beispiel für das moralische Handeln des Ersten Generalstabsoffiziers der Heeresgruppe Mitte Henning von Tresckow hingestellt, hat vor geraumer Zeit ein junger Wissenschaftler, Christian Gerlach, hinterfragt und widerlegt. Wie aus den Akten des Zentralen Staatsarchives Minsk, des Militärischen Zwischenarchives Potsdam und des Bundesarchives Potsdam ersichtlich wurde, führte das Pflichtbewußtsein Tresckows nicht allein zu den Umsturzplänen gegen Hitler, sondern auch zur korrekten Ausführung von Befehlen zur Vernichtung von Juden und Partisanen seit Beginn des "Kreuzzuges gegen den Bolschewismus" 1941.

Zitat 1: Alles aber hängt ab vom schnellen und durchgreifenden Erfolg der Heeresgruppe Mitte. Bleibt er bis zum Beginn des Winters aus, dann freilich wird es für uns düster werden. (21. Juni 1941: Scheurig, Bodo, Henning von Tresckow, S.118)

Seit Tresckow 1941 alle seine Einheiten unter die Heeresgruppe Mitte und dort dem 42. Armeekorps unterstellt hatte, war er im "Säuberungs- und Sicherungsdienst" der weißrussisch-ukrainischen Gebiete tätig. Das bedeutete, daß er in die "Befriedung" der besetzten Gebiete eingebunden war, die sich z.B. zwischen dem 27. Juli und 13. August 1941 in der Säuberung der Pripjetsümpfe mit 14 000 jüdischen Opfern äußerte.
Hans Mommsen:

O-Ton 1: Ich meine, die Daten sind leider ärgerlich und die lassen sich nicht ganz vom Tisch wischen, obwohl die sehr weitgehende Interpretation dieser - darf ich das mal so nennen - jungen Wilden, die aber zu den begabtesten deutschen Nachwuchshistorikern gehören und wirklich Beachtung verdienen, sicherlich ein wenig zu weit gehen. (22) 0'24

Professor Mommsen, eine Koryphäe der deutschen Widerstandsforschung, hat sich aufgemacht, die jungen wilden Wissenschaftler und die namhaften Zeitzeugen des Deutschen Widerstandes von Fehlinterpretationen der bisherigen Widerstandsforschung zu befreien.
Mommsen wehrt sich entschieden gegen die moralischen Äußerungen von Marion Gräfin Dönhoff, Richard von Weizsäcker oder Joachim Fest. Wird von ihnen auf der einen Seite die Ehre und das Gewissen des preußischen Militäradels verteidigt, gibt es von jungen Historikern auf der anderen Seite ausufernde Interpretationen hinsichtlich der Beteiligung von militärischen Widerstandskämpfern an Massenerschießungen in der Ukraine und Weißrussland. Unter der Losung: Wo der Partisan ist, ist der Jude und wo der Jude ist, ist der Partisan war in der Heeresgruppe B, der späteren Heeresgruppe Mitte, im Herbst 1941 die tägliche Zahl von über 100 Toten pro Tag Normalität.
Wie also will man das ehrenhafte Gewissen eines Generalstabsoffiziers von Tresckow oder des Adjutanten des Oberbefehlhabers von Bock, Major Carl-Hans Graf von Hardenberg in Einklang bringen mit offensichtlich menschenverachtenden Veranstaltungen?:

O-Ton 2: Ich meine, er war da nicht direkt verantwortlich, aber da gibt es ja auch den Bericht, da gibt es so eine Ausbildung der entsprechenden Sicherungsgruppe, wo dann einen Tag Theorie gemacht wird und einen Tag Praxis. Die Theorie besteht in antijüdischer Indoktrination und die Praxis besteht darin, daß sie sich dann auf einen LKW setzen, ein Dorf umzingeln und das ganze Dorf liquidieren, damit man sieht, wie das technisch geht. (18) 0'44

Zitat 2:
Versorgungsoffizier Major Günther von Gericke: Am Nachmittag des 25. September wurde als Polizei-Schulübung das schlagartige Besetzen einer Ortschaft (in diesem Falle des Ortes Knjashitschi) vorgeführt mit anschließender Durchsuchung der Häuser und Verhör der Einwohner.
Der Einsatz der Polizei-Mannschaften zur Abriegelung des Dorfes hätte unter zweckmäßigerer Berücksichtigung der Geländeverhältnise erfolgen können. Die Durchsuchungsaktion und das Verhör fanden die Zustimmung des Übungsleiters. Es wurden neben einigen Juden verdächtige Ortsfremde vorgefunden - 32 Exekutionen. (Gerlach, S. 432)

Es ist keine Frage, daß Hardenberg und Tresckow von diesen Übungen gewußt haben und sie als notwendig erachteten. Auch Rudolf Freiherr von Gersdorff, Abwehroffizier der Heeresgruppe Mitte, ein guter Freund Tresckows und aktiver Widerstandskämpfer, unternahm keine Massnahmen, um dieser Willkür ein Ende zu setzen, obwohl er es hätte tun können.
Völlig falsch aber wurde bisher die Rolle von Arthur Nebe, Leiter des Reichskriminalpolizeiamtes, eingeschätzt, der Henning von Tresckow bei der Vorbereitung des Hitler-Attentates helfen sollte:

O-Ton 3: Nebe gehört zu den ausgeprägten Scharfmachern, Nebe ist der Mann, der zuerst Vergasungsanlagen ausprobiert hat im Auftrage des Reichssicherheitshauptamts. Er ist also wirklich einer der wirklichen... und insofern wirft es ein gewisses Problem auf, wenn es wahr ist, daß auch ganz gute gesellschaftliche Beziehungen zwischen Tresckow und Arthur Nebe gegeben haben soll. Und hier muß man dann vielleicht so ein paar Distanzierungen einbringen gegenüber dem bisherigen Bild. (16) 0'37

Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, nach dem Attentat 1944 hingerichtet, war im Juni 1941 Reserveoffizier an der Ostfront und südöstlich von Bialystok untergebracht:

Zitat 3: Zweifellos steckt eine Gefahr darin, wenn unsere Leute anfangen, auf eigene Faust umzulegen. Wenn wir das zulassen, begeben wir uns auf die Ebene der SS. Zweifellos verdient der Russe nach (seiner) Kampfesweise keinen Pardon mehr. Aber dann müssen sie im Kampf oder nur auf Befehl von Offizieren erschossen werden...nur wer mit der Waffe in der Hand im Kampfe steht, wer aus dem Hinterhalt schießt, wer sich als Gefangener widersetzt oder flieht darf erschossen werden. (Gerlach, S.433)

Ganz eindeutig erkennt man in diesen Zeilen den alten Ehrenkodex preußischer Offiziere, doch daß dieser im 2. Weltkrieg seine Bedeutung verlieren könnte, war für die Militärs abwegig.
Ausschlaggebend für die endgültige Entscheidung für das Attentat auf Hitler im Sommer 1944 waren nicht die Massenmorde an Juden, an Partisanen oder an Zivilisten:

O-Ton 4: Bitte machen Sie sich klar: Sie sitzen in der Bendlerstraße und sind zuständig für den Ersatz und haben zu tun, daß sie pro Tag 4000 Mann verlieren, und nachher sinds noch mehr. Und er sagt: Das geht so nicht. Man kann den Krieg nicht gewinnen und das wird seit Moskau immer klarer und spätestens im Frühjahr wissen diese jüngeren Generalstäbe: Das ist vorbei. Vergessen Sie nicht: Die deutsche Armee verliert. Ist aufgestellt worden mit der Stärke von 1,6 Millionen Mann am 20. Juni 1941. Im Spätherbst 1946 hat sie gerade noch 60 000 und da ist aller Ersatz reingeschoben worden, den es überhaupt noch gab. (24) 0'56 O-Ton 5: Ich meine, der Stauffenberg entscheidet sich, weil er seine Armee retten will zum Hochverrat. Das das auch noch eine sittliche Entscheidung ist, ist ja wohl schon richtig, aber es ist doch nicht einfach nur die "Vollmacht des Gewissens" und diese Vorstellung, die die Leute beeinflußt haben. Die wollten auch politisch was werden und die wollten in ihrem Leben was bewirken und das sind nicht so blutleere, moralische Gestalten, zu denen sie durch die Widerstandsforschung der 50er Jahre gemacht worden sind. (21) 0'35

Politischer und moralischer Widerstand, so das Resümee Mommsens, müssen klar voneinander getrennt werden, wenn man die Beweggründe für einen Widerstand gegen Hitler untersuchen will - auch nach der Verantwortung der Männer des 20. Juli für Massenmorde in Osteuropa.